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Polarisierung des Europäischen Parlaments nach Wahlen zweiter Ordnung

Kurzanalyse der Europawahlen

 

Das Interesse an den Wahlen zum Europäischen Parlament steigt. Die Europawahlen weisen aber weiterhin Kennzeichen von Second Order Elections nach Reif und Schmitt (1980) auf. In vielen Mitgliedsstaaten ist die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen geringer als bei nationalen Parlamentswahlen (z.B. in Deutschland, Dänemark, Italien, Niederlande). In einigen Staaten verlieren die Regierungsparteien deutlich an Stimmen. Andererseits können Regierungsparteien in Polen, Ungarn, Italien und Österreich weiterhin ihre guten Ergebnisse behaupten. Somit ist das zweite Kennzeichen, die Verluste der Regierungsparteien, nicht durchgehend erfüllt. In Deutschland können sieben Kleinparteien die fehlende Sperrklausel und die Unzufriedenheit mit den größeren Parteien nutzen und mit einem, oder im Fall der Freien Wähler und der PARTEI, mit zwei Abgeordneten ins Europäische Parlament einziehen.

 

Es findet außerdem eine Polarisierung und Dezentralisierung im EP statt. Die traditionellen großen Fraktionen der Mitte, die Europäische Volkspartei (EVP) und die Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten (S&D) verlieren deutlich Sitze. Stattdessen gewinnen konkrete Themen eine größere Rolle bei der Wahlentscheidung (z.B. Umwelt- und Klimaschutz, Migration). Auf diese Weise können bisher kleinere Fraktionen, die vor allem diese Themen abdecken, mit mehr Abgeordneten ins Parlament einziehen.

 

Deutsches Ergebnis

Die sogenannten Volksparteien und aktuellen Regierungsparteien CDU und SPD verlieren deutlich. Die CDU verliert 7,5% und erreicht 2019 22,6% der Stimmen, die SPD verliert 11,4% und erreicht 15,8%. Damit verliert sie ihren Status als zweitstärkste Kraft. Als einzige Regierungspartei kann sich die CSU von 5,3% auf 6,3% verbessern. Daraus lässt sich eine Unzufriedenheit der Wähler mit der aktuellen Bundesregierung schließen. Der größere Fokus auf die Klima- und Umweltpolitik, beispielsweise durch die Fridays for Future Proteste, ist ebenfalls eine Ursache für die Verluste. Nach einer Umfrage der ARD vor der Wahl ist das Thema das meistgenannte Entscheidungskriterium (Ehni 2019). Davon können die Grünen profitieren. Diese steigern sich um 9,5% erreichen 20,5% und sind damit zweitstärkste Partei.

 

Die AfD kann mit der EU-kritischen Politik 11% der Stimmen erreichen. Damit gewinnt sie im Vergleich zur Europawahl 2014 3,9%, verliert im Vergleich zur Bundestagswahl 1,6%. Da die AfD den menschengemachten Klimawandel leugnet, ist es naheliegend, dass auch hier dieses Thema eine Rolle spielt. Die Linke erreicht 5,5% und die FDP 5,4%.

 

Europaweites Ergebnis

Stimmverluste   der   traditionellen   Volksparteien, die   sich   auf   nationaler   Ebene   in Deutschland zeigen, sind auch bei den entsprechenden europäischen Parteifamilien zu sehen. Die EVP verliert 37 Sitze (EP 2014:216 Sitze; EP 2019:179). S&D verliert 32 Sitze und hat im neuen EP nun 153 Sitze. Darin zeigt sich eine Polarisierung der Stimmverteilungen, die sich von den etablierten Parteien der Mitte an die Ränder verlagern. Das rechte Lager profitiert stark davon. Die Fraktion EKR verliert zwar 14 der 77 Sitze und wird nur noch 63 Abgeordnete vertreten. Die weiteren EU-skeptischen Fraktionen EFDD und ENF gewinnen Mandate. ENF gewinnt 22 Mandate und ist durch 58 Abgeordnete vertreten. Ursache sind die guten Ergebnisse der Regierungsparteien in Italien und Polen, sowie des Rassemblement National, der in Frankreich stärkste Kraft wurde. Die von Nigel Farage geführte EFDD Fraktion gewinnt 12 Sitze und zählt nun 54 Abgeordnete. Es müssen aber noch Abgeordnete aus weiteren Staaten gewonnen werden, um den Fraktionsstatus zu erhalten (Barnes 2019). EFDD profitiert von der britischen Brexit-Partei, die aufgrund des Brexit Chaos und der unklaren Haltung der konservativen Partei und der Labour Partei stärkste Kraft wurde.

 

Durch den Beitritt der Partei von Frankreichs Präsident Emanuel Macron kann sich die Fraktion der Liberalen (ALDE) von 69 auf 105 Sitze verbessern. Aufgrund des starken Ergebnisses der deutschen Grünen und des Beitritts von fraktionslosen Abgeordneten können sich die Grünen von 52 auf 74 Sitzen verbessern.

 

Mehrheiten?

Keine der Fraktionen hat entsprechend des erläuterten Ergebnisses eine Mehrheit. Auch eine große Koalition aus den Parteifamilien der EVP und S&D verfehlt die Mehrheit. Sie verliert 69 Sitze und kommt auf 332 statt bisher 401 Abgeordnete. Die Wahl eines der europäischen Spitzenkandidaten Manfred Weber oder Frans Timmermans zum Kommissionspräsidenten erfordert demnach die Unterstützung Abgeordneter aus anderen Fraktionen. Auch das linke Lager aus S&D, Grüne/EFA und GUE/NGL hat mit 260 Mandaten keine Mehrheit. Selbst mit den Liberalen sind es nur 370 Abgeordnete und damit keine Mehrheit. Das euroskeptische Lager aus den Fraktionen der EKR, EFDD und ENF stellt 23,3% der MEPs. Konkret sind es zusammen 175 Abgeordnete. Die euro- und EU-kritische Stimmung nimmt im Vergleich zu 2014 trotzdem zu. Das rechte Spektrum gewinnt 20 Abgeordnete. Eine konservative Allianz aus der EVP und den anderen Fraktionen des rechten Spektrums verfehlt mit 354 Sitzen ebenfalls eine Mehrheit. Die Bildung dieser Allianz ist bei der Wahl des Kommissionspräsidenten unwahrscheinlich und auch nur für einzelne themenspezifische Entscheidungen, z.B. die Stärkung des EU-Grenzschutzes, denkbar.

 

Geringe Wahlbeteiligung trotz Steigerung

 

Die Wahlbeteiligung der EU stieg von 42,6% auf 50,1%. Damit ist es die höchste Wahlbeteiligung seit 1994. Es gibt ein West-Ost Gefälle. Östliche Mitgliedsstaaten weisen generell eine geringere Wahlbeteiligung auf. In den westlichen Mitgliedsstaaten ist die Wahlbeteiligung meistens geringer als bei nationalen Parlamentswahlen. In Deutschland wählten 61,4% der Wahlberechtigten bei der Europawahl. Bei den letzten Bundestagswahlen 2017 betrug die Wahlbeteiligung 76,2%. In Italien (EU-Wahl:54%; nationale Parlamentswahl: 73%), Österreich (59%;80%), Schweden (55%; 85%), Dänemark (66%; 85%) und den Niederlanden (42%; 81%) zeigt sich diese Diskrepanz ebenfalls.

 

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