Die Nazis sind besiegt, Deutschland wird nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut. Die Demokratie steht in den Startlöchern. Aber wie fühlen sich die Menschen in der Zeit? Susanne Kerkhoffs Roman „Berliner Briefe“, der 2020 erneut im Verlag "Das kulturelle Gedächtnis" wiedererschien, liefert einen kleinen Einblick.
1947: Der Zweite Weltkrieg ist seit zwei Jahren vorbei und Deutschland ist besiegt. In dem geteilten Land läuft der Wiederaufbau. In dieser Zeit lebt Helene, die Protagonistin des Briefromans „Berliner Briefe“ von Susanne Kerckhoff. Sie schreibt dem Jugendfreund Hans 13 Briefe und schildert ihm ihre Eindrücke aus Deutschland. Hans musste vor den Nazis fliehen, weil er Jude ist. Leser:innen können nur vermuten, was er zu sagen hat, weil seine Antworten nicht im Buch enthalten sind.
"Berliner Briefe" von Susanne Kerckhoff: Gedanken in der "Stunde Null"
Der Lebenslauf der Briefschreiberin im Roman „Berliner Briefe“ ähnelt der Biografie der Autorin. In einer Vorbemerkung aus dem Dezember 1947 schreibt die Autorin und Journalistin Susanne Kerckhoff, dass das Buch noch kein endgültiges Credo sein könne und sie deshalb die belletristische Form gewählt habe. „In diesen Briefen spiegeln sich Ratlosigkeit und Hoffnung. Ein Mensch bemüht sich, innerhalb der gegebenen Situation über das politische Woher und Wohin Rechenschaft abzulegen“, schreibt Kerckhoff.
Und das macht die fiktive Helene in den Briefen. Sie liefert eine Bestandsaufnahme der Neuordnung eines Landes, das gerade einen Weltkrieg verloren hat, in dem es unfassbare Verbrechen begangen hatte.
"Berliner Briefe": Wut über Verbrechen und Gleichgültigkeit
Helene berichtet in ihren Briefen zunächst über die Freude, die sie bei dem Sieg der Alliierten verspürte. Aber schließlich spricht sie auch von ihrem Entsetzen über die Verbrechen der Nazis, über die sie noch viel nachdenkt. Im ersten Brief im Roman „Berliner Briefe“ erklärt sie: „In ein bestimmtes Lager gehöre ich – das Lager derjenigen, die sich noch in gar keine Weise beruhigt haben – über Nationalsozialismus und Krieg, über Sozialismus und Kapitalismus, über Schuld und Sühne, über eigene Schuld und eigene Sühne, kann ich mich nicht beruhigen.“
Sie schildert die Haltung der Deutschen, die sich im Unrecht sehen und eben die Verbrechen, die sie kollektiv begangen haben, vergessen wollen. Sie spart sich selbst allerdings nicht aus: „Und wie steht es überhaupt mit meiner eigenen Schuld? […] Autonom und politisch bewusst bis in die letzte Winkelkonsequenz habe ich nicht gelebt. Dann würde ich heute wohl kaum mehr leben.“ Stattdessen hoffte sie auf die Befreiung und hielt sich bedeckt.
Kerckhoff äußert in "Berliner Briefe" Zweifel an der Demokratiefähigkeit der Deutschen
Nach der Befreiung von der faschistischen Diktatur soll dann die Demokratisierung anstehen. Susanne Kerckhoffs Romanfigur Helene philosophiert in „Berliner Briefe“ auch über die politische Kultur im Land. Sie berichtet, dass die Voraussetzungen für die Demokratie noch zu schwach seien. Die demokratischen Kräfte hätten noch nicht genug Rückhalt im Volk. Außerdem hat sie das Gefühl, dass die Entnazifizierung viel zu inkonsequent betrieben werde.
Es gebe weiter eine faschistische Bedrohung. Die Ideologie der Nazis und die von ihnen geschürten Ressentiments seien noch sehr weit verbreitet. Helene graust die Vorstellung einer Demokratie, weil sie damit rechnet, dass die Nazis alles dafür machen werden, um wieder an die Macht zu kommen: „Sie lassen sich von der Demokratie schützen, werden in ihrem Schutz wie vordem korpulent und kräftig, um die Demokratie zu stürzen.“ Aus diesem Grund zweifelt Helene selbst daran, ob sie Demokratin ist, weil ihr „sehr undemokratisch ums Herz“ werde, wenn sie Nazi-Sprüche höre.
"Berliner Briefe" von Susanne Kerckhoff: Warnung für Umgang mit Rechtsextremisten heute
Viele Gedanken, die Susanne Kerckhoff im Briefroman „Berliner Briefe“ äußert, erinnern an die heutige Zeit. Rechtsextremist:innen sitzen auch im Jahr 2021 wieder im Bundestag und nutzen demokratische Mittel, um menschenfeindliche Aussagen zu treffen. Oder sie bedrohen Abgeordnete, um ihren Willen durchsetzen zu können und die Demokratie so langsam zu beerdigen. Und auch die Gefahr von populistischen Versprechungen und das sogenannte postfaktische Zeitalter beschreibt Helene: „Das Gute mit seinen Waffen ist schutzlos gegenüber dem Kampf der Skrupellosen. […] Wer nicht das Wahrhaftige, sondern das Geschäftstüchtige sagt, der siegt.“
Der Roman „Berliner Briefe“ von Susanne Kerckhoff liefert einen spannenden Einblick in eine moralische Diskussion in der Nachkriegszeit. Das Buch hat nur knapp über 100 Seiten, aber es umfasst Gedanken zu einer Menge Themen der Zeit, die in diesen Text Kerckhoff diskutiert beispielsweise die Aufgabe von Parteien, kritisiert ihre eigene Partei, die SED, die nicht auf die Bedürfnisse der Menschen eingehe, sondern nur die Ideologie durchsetze.
"Nie wieder Faschismus" ist in jeder Zeile von "Berliner Briefe" spürbar
Der Briefroman zeigt grundsätzlich eine humanistische Haltung. Helene ist Antifaschistin, die Menschheitsideale in den Mittelpunkt stellt. Aber vor allem die Wut über die Verbrechen der Nazis und das Verhalten vieler deutschen Bürger:innen und die Enttäuschung darüber, dass eine wahrhaft stabile Demokratie, zumindest aus der damaligen Perspektive von Susanne Kerckhoff, nicht möglich scheint, ist in „Berliner Briefe“ deutlich zu spüren. Aus jeder Zeile dringt der Ruf: "Nie wieder Faschismus!"
Der Roman diskutiert die Schuldfrage und die Nazi-Herrschaft, die bei manchen Menschen auch im 21. Jahrhundert noch unbeliebt ist und als "Vogelschiss der Geschichte" bezeichnet wird, auf eine außergewöhnliche Weise: Aus der Perspektive von innen, gespickt von Erfahrungsberichten, die zeigen, dass die Diskussion damals wie heute nötig ist. Für die Autorin ist die Antwort klar: „Wir haben Millionen das Leben gestohlen! Wir verwüsteten und versklavten ganz Polen! Wer das vergisst, den soll der Teufel holen!“
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