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Durchs Raster fallen - Deniz Ohde Streulicht

Bildung ist kostenlos. Jede:r kann zur Schule gehen und durch Bildung aufsteigen. Das ist das Versprechen und die Hoffnung, der sozialen Marktwirtschaft. Aber warum schaffen es manche Menschen doch nicht? Wie wird man „bildungsfern“ und was heißt das überhaupt? Deniz Ohdes Roman „Streulicht“ berichtet über die Kindheit und Jugend einer Frau mit doppelter Benachteiligung. Sie ist Arbeiterkind und hat einen Migrationshintergrund.

 

Bildungsfern. Der Begriff wird in politischen Diskussionen und journalistischen Veröffentlichungen häufig verwendet. Er wird also meistens von Akademiker:innen verwendet. Personen, die einen formell hohen Bildungsabschluss haben. „Bildungsferne“ ist nicht genau definiert. Der Duden definiert es als „nicht an Bildung interessiert“ oder „nicht auf Bildung ausgerichtet“. Häufig ist es auch nur ein Synonym für „ungebildet“ oder sogar „dumm“. Unabhängig davon sind die Debatten, in welchen der Begriff verwendet wird, immer eine Betrachtung von außen.

 

Deniz Ohdes Roman „Streulicht“ dagegen liefert eine Ansicht von innen. Die namenlose Ich-Erzählerin kommt darin in einen Arbeiterort in der Nähe von Frankfurt am Main zurück, weil ihre beiden besten Freund:innen Pikka und Sophia heiraten. Bei der Rückkehr erinnert sie sich an ihre Kindheit und Jugend in diesem Ort. Und sie verfällt sofort wieder in alte Muster.

"Streulicht" von Deniz Ohde: Zur Abschottung erzogen

Auf die Erziehung in ihrer Familie trifft vermutlich die zweite Definition von „bildungsfern“ aus dem Duden zu: „Nicht auf Bildung ausgerichtet“. Ihr Vater ist Arbeiter im Industriepark, der an den Ort angrenzt. Auch ihr Großvater war Arbeiter. Ihr Vater ist ein zurückgezogener Mensch, der Angst vor Urteilen anderer Menschen hat. Und er ist ein Messi, Alkoholiker und gewalttätig. Die Mutter der Erzählerin ist eine türkische Einwanderin. Auch sie, genau wie der Vater, erziehen die Ich-Erzählerin zu einer gewissen Verschlossenheit. Die Mutter hat die Neigung, Probleme unter den Teppich zu kehren und einfach so hinzunehmen.

 

So lernt die Ich-Erzählerin beispielsweise zuhause still zu sein, um ihren Vater nicht zu nerven. Von der Mutter lernt sie auch, ihren Migrationshintergrund zu verschweigen. Rassistische Vorfälle werden ignoriert und mit den Worten ihrer Mutter mit folgenden Worten abgetan: „Du kannst nicht gemeint sein. Du bist Deutsche.“

Deniz Ohde "Streulicht": Persönlichkeit genügt nicht den Anforderungen

Ihr familiäres Umfeld führt dazu, dass die Erzählerin einen stillen Charakter und eine zarte Stimme hat. Sie kann sich nicht durchsetzen. Ihr wird vermittelt, dass Bildung nichts für sie sei. Das entwickelt die Haltung der Erzählerin, dass sie für alles nicht gut genug sei. Sie hat also den Eindruck, dass sie keine Ansprüche stellen darf.

 

Dadurch fällt sie durch das Raster im Schulsystem, das mündliche Beteiligung erfordert. Ihr Aussehen führt außerdem dazu, dass ihr Klassenlehrer denkt, ihre schlechte mündliche Mitarbeit liege daran, dass sie kein Deutsch verstehe. Sie schafft es trotzdem aufs Gymnasium, fliegt aber in der neunten Klasse aufgrund ihrer schlechten Noten. Dabei ist sie intelligent, was sie dann auf dem zweiten Bildungsweg beweist, wo sie ein sehr gutes Abitur schafft.

Beste Freundin zeigt Klassenunterschiede in Roman "Streulicht" auf

Deniz Ohde führt durch Sophia, die beste Freundin der Erzählerin, den genauen Gegensatz dazu. Sophias Familie ist bürgerlich und hat ein Haus (im Gegensatz zur zugestellten Wohnung der Erzählerin). Sophias Mutter kümmert sich immer um sie und sorgt sich um die Ausbildung ihrer Tochter. Außerdem nimmt Sophia stärker am sozialen Leben im Ort teil. Sie ist im Reitverein und in einer kirchlichen Jugendgruppe.

 

Aber auch Sophia (und der andere gute Freund Pikka) sind keine große Hilfe. Als Sophia die Erzählerin zu einem Treffen der Jugendgruppe mitnimmt und rassistische Bemerkungen fallen, sagt Sophia, dass die Erzählerin sich das nur einbilde. Und auch beim Thema Bildung traut Sophia ihrer Freundin nicht so viel zu.

 

Allen Widrigkeiten zum Trotz schafft die Erzählerin an einer Abendschule den Realschulabschluss, macht Abitur, das sie sehr gut abschließt und studiert. Sie meistert also das Bildungssystem. Dabei legt sie allerdings nicht den Arbeiter:innen-Habitus ab. Sie entwickelt trotz allem kein großes Selbstvertrauen und nimmt Ungerechtigkeiten weiter hin statt sich dagegen zu wehren. Auch die Uni ist für sie eine andere Welt. Am Ende weiß sie immer noch nicht so richtig, was sie machen soll. Sie hat das nötige Verhalten, die im Neoliberalismus notwendige Präsentation der eigenen „Marke“ nie gelernt. Sie bleibt damit weiterhin Opfer ihrer sozialen Herkunft, von der sie sich offenbar nur räumlich distanzieren kann.

Rassismus und Klassismus in "Streulicht" und in der Gesellschaft

„Streulicht“ behandelt also zwei große Themen. Die Erzählerin ist doppelt benachteiligt: Sie ist Tochter eines Arbeiters und einer Einwanderin. Am Beispiel der Erzählerin verdeutlicht Deniz Ohde, wie Klassismus und (Alltags-)Rassismus im Bildungssystem immanent sind. Ohde zeigt, welche Hürden Menschen mit dieser sozialen Herkunft überwinden müssen. Durch Sophia wird das noch deutlicher, die fast perfekte Bedingungen hat, um Karriere zu machen. Klassismus und Rassismus bekommen dadurch ein Gesicht und die Ungerechtigkeiten des Systems werden spürbar. Am Ende des Romans stellt sich also die Frage, ob sich die Menschen vom Bildungssystem entfernen, oder ob es nicht umgekehrt ist: Schließt das System Menschen aus. Die Antwort lautet wohl: Ja.

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