Arbeitslosigkeit ist beängstigend, aber die Gesellschaft braucht sie, so die These von Anna Mayr in ihrem Sachbuch „Die Elenden“, das am 17. August 2020 erschien. Darin schildert sie Armut aus der Perspektive von Betroffenen und zeigt so die Fehler im System auf.
Anna Mayr wuchs in Armut auf. Sie lebte in einem Plattenbau in einer Stadt am Rand des Ruhrgebiets. Der Grund: sie ist Tochter von zwei Langzeitarbeitslosen. In der Schule konnte sie nicht mitreden, wenn ihre Mitschüler:innen über den neusten Kinofilm redeten. Als Jugendliche konnte sie keine modischen Trends mitmachen, sondern musste sich ihre Kleider in Schlussverkäufen kaufen – abgesehen von der Zeit, als selbstbedruckte Baumwollturnbeutel im Trend waren. Aber sie entkam der Armut. Sie hatte eine gute Abiturnote, erhielt ein Stipendium und studierte Geographie und Literatur. Danach besuchte sie die Deutsche Journalistenschule in München. 2017 war sie mit einem Team von Correctiv für den Reporterpreis und 2018 für den Nannenpreis nominiert. Heute ist sie Redakteurin im Politikressort der Zeit.
Anna Mayr „Die Elenden“: Warum gibt es Armut?
Das liest sich wie eine klischeemäßige Erfolgsgeschichte, die dem Narrativ des amerikanischen Traums entspricht: ein armes Mädchen hat einen Traum und arbeitet hart, um ihn zu verwirklichen. Und sie hat es geschafft. Anna Mayr hätte diese Aufstiegsgeschichte erzählen können. Sie könnte über ihre schwere Kindheit schreiben. Anna Mayr schildert in „Die Elenden“ allerdings nicht ihre erfolgreiche Aufstiegsgeschichte, die allen Leser:innen Mut machen könnte. Sie will auch nicht ihre Einzelfallgeschichte erzählen und zeigen, wie schlimm es war. Sie stellt die Frage nach dem „Warum?“. Sie möchte zeigen, warum es so war und welches System dahintersteht.
Zu Beginn ihres Buches stellt sie fest, warum wir Arbeitslosigkeit überhaupt brauchen: „Einerseits brauchen wir auf einer psychologischen Ebene Arbeitslose, um uns von ihnen abzugrenzen. Und andererseits, auf der wirtschaftlichen Ebene, brauchen wir Arbeitslose, damit Leute auf schlecht bezahlte Mistjobs gehen. Damit jemand zum Spargelstechen aufs Feld geht, braucht es etwas, was schlimmer ist. Das ist die Arbeitslosigkeit." Und sie schildert, welche Auswirkungen die Arbeitslosigkeit auf Menschen hat. Sie hebt die Bedeutung der Arbeit hervor. Sie habe eine identitätsstiftende Wirkung; genau wie der Konsum: „Wenn man davon ausgeschlossen ist, dann hat man gar nicht die Chance, sich eine Identität aufzubauen.“ Die Armen seien schon an der Kleidung zu erkennen. Dadurch würden sie weiter stigmatisiert und ausgeschlossen. Gesellschaftliche Teilhabe sei ausgeschlossen. Das führe bei vielen zu psychischen Problemen.
Anna Mayr in „Die Elenden“: Verhältnis zur Arbeit muss überdacht werden
Wie lässt sich das Problem lösen? Wie lässt sich der Sozialstaat reformieren? Anna Mayr plädiert in „Die Elenden“ zunächst einmal gegen die alleinige Bekämpfung der Symptome durch Sozialarbeiter:innen und Psycholog:innen. Sie überlegt, dass man das Geld der Folgekosten von Arbeitslosigkeit den Familien direkt geben solle, weil Teilhabe nur über Geld möglich sei. Auch ein bedingungsloses Grundeinkommen lehnt sie ab; genau wie Rufe nach mehr Bildung.
Anna Mayr selbst möchte grundsätzlich das Verhältnis zur Arbeit überdenken. Der Beruf sollte nicht mehr die relevanteste Information über die Menschen sein. Dadurch würde sich, so Mayr, die Haltung verändern, was einem Menschen seinen Wert verleihe.
„Die Elenden“ von Anna Mayr: Perspektivenwechsel beim Thema Arbeitslosigkeit
„Die Elenden“ beschreibt Anna Mayr sehr gut, was Armut in Deutschland bedeutet. Dabei ist das Buch zwiegespalten. Es ist einerseits analytisch, aber auch persönlich. Anna Mayr macht sich selbst zur Protagonistin der Geschichte. Es ist keine Analyse von außen, sondern die Leser:innen nehmen zusammen mit der Autorin deren Perspektive ein. Das erzeugt Empathie; allerdings führt sie die Leser:innen aus der Komfortzone und konfrontiert sie mit der eigenen Abstiegsangst. Es wird deutlich, dass es bei der Geschichte um Menschen geht, die häufig unverschuldet in die Lage geraten und nicht um den abstrakten Stereotyp der Sozialschmarotzer:innen. Die Thematisierung der Folgen von Arbeitslosigkeit und dem Ausschluss aus der Gesellschaft, der erfolgt, schafft ein neues Verständnis von Arbeitslosigkeit. Ein neues Problembewusstsein bei den Leser:innen kann dadurch geschaffen werden, so dass Arbeitslose nicht mehr von oben herab betrachtet werden.
Es handelt sich also wirklich nicht um eine Erfolgsgeschichte, die neoliberalen Politiker:innen als Beispiel dient, um zu zeigen, dass das Aufstiegsversprechen real ist. Es ist eine Kapitalismuskritik. Sie unterscheidet sich allerdings im Standpunkt. Anna Mayr schreibt es als Tochter von Arbeitslosen und nimmt immer wieder die Perspektive ihrer Kindheit ein. Es ist keine herkömmliche Analyse von Journalist:innen oder Sozialwissenschaftler:innen. Als Sprachrohr der Elenden entreißt sie den Akademiker:innen für einen Moment die Deutungshoheit über die Menschen ihrer sozialen Herkunft. A propos Deutungshoheit: Was wünschen sich Armutsbetroffene von der Politik?
Auch die Protagonistin von Deniz Ohdes Roman "Streulicht" wächst in Armut auf. Ohde zeigt auf, wie sich Rassismus und Klassismus im Bildungssystem auswirken.
Hinweis: Der Artikel erschien bereits im November 2020 in der Würzburger Studierendenzeitung "Sprachrohr".
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