Von Max Schäfer
„Unterleuten las keine Zeitungen, sah kaum fern, benutzte das Internet nicht, interessierte sich nicht für Berlin, rief niemals die Polizei und vermied überhaupt jeden Kontakt mit der Außenwelt – aus einem schlichten Grund: weil es die Freiheit liebte.“
Das ist die Beschreibung für das Dorf Unterleuten, wo der Roman „Unterleuten“ von Juli Zeh spielt. Das Buch erschien am 8. März 2016.
Das Dorf in Brandenburg ist, wie das obige Zitat verdeutlicht, abgeschnitten vom nationalen Geschehen. Die Bewohner stehen politischen Prozessen skeptisch gegenüber. Sie waren es gewohnt Anweisungen (gerade in der Landwirtschaft) von der Obrigkeit zu bekommen und in den richtigen Momenten den Mund zu halten. Sie regelten ihre Angelegenheiten buchstäblich unter Leuten. Es kommt nicht darauf an, wer Recht vor dem Gesetz hat, sondern wer mehr Einfluss im Dorf hat. Max Stirners Grundsatz „Ich bin zu allem berechtigt, dessen ich mächtig bin“ passt sehr gut, um die rechtliche Situation zu beschreiben. Es herrscht eine bipolare Machtstruktur. Dabei stehen sich Kron und Rudolf Gombrowski gegenüber, die schon sehr lange verfeindet sind. Kron ist ein Kommunist und ehemaliger Brigadeführer in der LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgemeinschaft) „Gute Hoffnung“. Gombrowski war der Vorsitzende der LPG und wandelte diese zur Ökologica GmbH um, deren Geschäftsführer er ist. Kron kann in diesem Konflikt auf die Unterstützung ehemaliger Arbeiter der LPG und deren Familien zurückgreifen. Gombrowski dagegen ist der größte Arbeitgeber der Gemeinde und kann zudem auf sein Vermögen und den von ihm eingesetzten Bürgermeister zurückgreifen. Außerdem schulden ihm die meisten Dorfbewohner einen gefallen.
Unterleuten von Juli Zeh: Der Dorffrieden hängt schief
Grund für die Eskalation des Konflikts ist das Vorhaben eines externen Unternehmens, Windkraftanlagen in der Nähe der Gemeinde zu bauen. Gombrowski möchte die Windkraftanlagen auf seinen Grundstücken bauen lassen, um Pachteinnahmen zu bekommen. Kron möchte das aufgrund des alten Konflikts verhindern. Unterstützung erhält Kron von Gerhard Flies. Der ehemalige Professor der Soziologie zog zusammen mit seiner deutlich jüngeren Frau Jule aufs Land, um der großstädtischen Gesellschaft Berlins zu entkommen. In Unterleuten wurde er Vorsitzender des Vogelschutzbundes. Linda Franzen ist ebenfalls zugezogen und möchte eine alte Villa sanieren und einen Pferdstall bauen. Sie besitzt ein kleines Grundstück im für die Windkraftanlagen vorgesehenen Gebiet, so dass sie zur Schlüsselfigur im Konflikt wird. Hinzu kommt Konrad Meiler, der ein Unternehmensberater aus Ingolstadt ist und viel Land im Gebiet von Unterleuten besitzt. Auch er möchte die Windkraftanlagen auf seinem Grundstück bauen lassen.
Meiler spielt in diesem Konflikt keine große Rolle, da von den meisten Leuten nicht als Akteur wahrgenommen wird. Jede Partei versucht Verbündete zu gewinnen, um die eigenen Interessen durchzusetzen. Gombrowski und Flies gehen jeweils direkt auf Linda Franzen ein und versuchen sie auf ihre Seite zu ziehen. Gombrowski gelingt das besser, da er aufgrund seiner Beziehungen dafür sorgen kann, dass Franzens Baugenehmigungen erteilt werden. Bis zu diesem Punkt hin eskaliert der Streit ein wenig. Das ist dem Umstand geschuldet, dass die jeweiligen Akteure sehr emotional handeln. Begründet liegt dies in der Fehde zwischen Kron und Gombrowski und den jeweiligen, teils fundamentalistischen Anhängerschaften.
Juli Zehs Unterleuten: Personen repräsentieren bestimmte Milieus
Die Charaktere sind ebenfalls sehr in die Stereotypen der Gruppen, die sie repräsentieren hineingezwängt. Kron ist die Personifikation des Sozialismus und steht der Gesellschaft im Allgemeinen und der Profitgier der Unternehmer im Besonderen sehr kritisch gegenüber. Gombrowskis Familie hatte lange Zeit den Status von Großgrundbesitzern inne, bis sie im Sozialismus enteignet wurde. Sein Ziel ist es, seinen landwirtschaftlichen Betrieb auszubauen und das Überleben der Gemeinde zu sichern. Er ist sehr berechnend und nutzt seine Beziehungen so gut es geht. Gerhard Flies ist Wissenschaftler und erfüllt die meisten Klischees, die man gegenüber Akademikern haben kann. Er ist sehr gesellschaftskritisch und versäumt keine Gelegenheit, seine Meinung zu allen erdenklichen Themen kundzutun. Er ist ein Theoretiker und wählt häufig nicht den direkten Kontakt, um seine Ziele durchzusetzen. Jule Fließ-Weiland ist etwas mehr als 20 Jahre jünger als ihr Ehemann und zuvörderst Mutter, die sich nur um das Wohl ihrer Tochter Sophie kümmert. Sie ist ebenfalls Soziologin, passt allerdings in keine konkrete Rolle hinein, sondern wechselt diese immer wieder. Das genaue Gegenteil ist Linda Franzen, die sehr hart arbeitet, um ihre Ziele zu erreichen. Dabei tritt sie sehr emotional aber auch sehr berechnend auf. Konrad Meiler ist der Idealtypus eines Kapitalisten. Er kauft viel Land im brandenburgischen Nirgendwo, um bei auslaufenden Pachtverträgen die Preise zu erhöhen. Die meisten Unterleutner tragen Altlasten mit sich herum, die im Laufe des Konflikts wieder hervorkommen.
Unterleuten von Juli Zeh: Egoismus führt zur Eskalation
Die Charaktere handeln nur nach ihrem eigenen Interesse und zeigen sich nur begrenzt kompromissbereit. Dieser Umstand muss natürlich zu einer endgültigen Eskalation führen. Als Leser sieht man diese kommen, wobei auch der Weg zum Höhepunkt möglicherweise zu lange ist. Grund ist die Art wie der Roman geschrieben ist. Die Erzählung wird kapitelweise aus der Perspektive einer anderen Person erzählt. Einzelne Cliffhanger sollen allerdings dafür sorgen, dass sich die Spannung nicht verliert. Das gelingt nicht immer und je nachdem ist es auch etwas nervig. Trotzdem halte ich den Roman für lesenswert. Bestimmte gesellschaftliche Gruppen werden zwar überspitzt, aber sehr treffend geschildert. Der Konflikt zeigt in meinen Augen passend, wie die Diskussionskultur in unserer Gesellschaft aussieht: Jeder achtet nur auf seine Interessen und ist nicht bzw. nur begrenzt bereit, einen Kompromiss einzugehen.
Kommentar schreiben